Matera wird 2019 Kulturhauptstadt

Matera – Die Löcher im weißen Fels waren schwarz. Es muffte nach Schimmel. Es stank nach Müll. Gemessen an der Jahrtausende alten Geschichte von Matera war es erst gestern, dass sich Italien für die Stadt in seinem armen Süden schämte.

Doch was gestern Schande war, ist heute Stolz – und 2019 Europäische Kulturhauptstadt. «Zuerst erschien uns das als etwas viel zu großes für Matera», sagt Mario Daddiego. «Aber jetzt wird die Welt verstehen, dass
Matera existiert. Die Stadt ist ein Rohdiamant.»

Der 46-Jährige steht in seinem Laden, der gleichzeitig Werkstatt ist. Er ist wie so viele andere Geschäfte, Restaurants und Unterkünfte in dem Ort in den Fels gehauen worden. Matera ist berühmt für seine «Sassi». Die antiken Höhlensiedlungen baut Daddiego für seine Weihnachtskrippen nach.

Bewohnte Höhlen

Die Felsen entlang der Schlucht inmitten zerklüfteter Landschaft sind durchzogen von Höhlen, die Menschen schon vor Tausenden Jahren bewohnten. In den Vierteln Sasso Caveoso und Sasso Barisano lebten bis in die 50er Jahre Menschen unter hygienisch desaströsen Zuständen. Teilweise Seite an Seite mit ihren Tieren.

1952 erließ die Regierung in Rom ein Gesetz, das die Zwangsräumung der in Stein gehauenen Behausungen veranlasste. Matera galt als «vergogna nazionale», als nationale Schande. Rund 17.000 Menschen wurden umgesiedelt. Die Sassi drohten zu verfallen. Bis 1986 ihre Erhaltung und Sanierung angeordnet und sie 1993
Unesco-Weltkulturerbewurden.

Mittlerweile zieht die Stadt mit ihren unzähligen Gewölben immer mehr Besucher an, obwohl sie abseits der Touristenpfade liegt. Vielleicht wird es schon bald ein Segen sein, dass der nächste Flughafen mehr als 60 Kilometer entfernt ist und sich so schnell niemand nach Matera verläuft, der nicht wirklich dort hin will. Lag die Zahl 2010 noch bei 200.000, wurden 2017 etwa 480.000 Übernachtungen gezählt.

Touristen als «temporäre Bürger»

«Es gibt diejenigen, die sagen: Nach 2019 kommt niemand mehr. Und es gibt die, die sagen: Es kommen schon jetzt zu viele», sagt Paolo Verri, Leiter der Stiftung Matera 2019. «Ich glaube, die Wahrheit liegt in der Mitte. Wir sind nicht Venedig und hoffen auch nicht, es zu werden. Aber wir müssen auch ehrlich sein. Wenn der Tourismus keine Beschäftigung geschaffen hätte, wäre die Situation heute anders. Der Tourismus schafft neue Möglichkeiten. Und bringt frisches Geld.»

Die kleinen, winkelreichen Gassen sind malerisch. Sie ziehen sich die vielen Hügel rauf und runter. Die Häuser sind mit dem Stein verschmolzen. Über ihren Dächern ragt auf einem wuchtigen Felsen ein Kreuz. Hollywood hat längst entdeckt, dass Matera eine perfekte Kulisse ist. Mel Gibson trug als Jesus in der «Passion Christi» das Kreuz durch die Straßen. Hier kann man sich verlieren. Googlemaps hilft nicht immer weiter, aber das ist auch nicht nötig, um auf urige Cafés, Restaurants und Weinbars zu stoßen.

Im Jahr der Kulturhauptstadt wird Öffnung und Austausch zwischen den «Materani» und den Besuchern groß geschrieben. Die Eintrittskarte ist gleichzeitig Ausweis, der die Touristen zu «temporären Bürgern» macht. Sie sollen Matera auch außerhalb der Sassi entdecken, zu Botschaftern der Stadt werden und wiederkommen. 

Zwischen Schande und Weltkulturerbe

Doch es gibt auch Zweifel, ob den Einwohnern wirklich so viel Bedeutung zukommt, wie die Initiatoren glauben machen. «Der Materano von heute ist nicht im Programm», sagt Nadia Della Chiara, die in ihrem Geschäft Handgemachtes aus der Region wie Textildrucke oder Vasen verkauft. Lange Zeit sei die Stadt verschlossen gewesen. Ein Event für Matera würde ein Außenstehender nicht verstehen – und umgekehrt. «Es werden zwei Welten bleiben», meint Della Chiara.

In die Rolle der größten Kritikerin der Organisation vor Ort schlüpft bisweilen die italienische Ministerin für den Süden, Barbara Lezzi. Sie kritisierte Verzögerungen bei Bauarbeiten und nahm sich Beschwerden einiger lokaler Reiseveranstalter an, die sich von der Planung ausgeschlossen gefühlt hatten. Zuletzt stattete sie der Stadt Überraschungsbesuche ab, um zu schauen, ob bis zum offiziellen Start am 19. Januar 2019 wirklich alles fertig wird. 

Von dann an soll es in Projekten lokaler, nationaler und europäischer Teilnehmer um Kontinuität und Bruch, Wurzeln und Wege gehen. Die Themen des recht abstrakten Programms sind alle eng mit der DNA Materas verknüpft und können auf ganz Europa übertragen werden. Es geht um Abwanderung und Vernachlässigung ländlicher Regionen oder reale Beziehungen in einer immer digitaler werdenden Welt. Und natürlich auch um die Schande. 

«La Bella Vergogna» wirft die Frage auf, ob Schande schön sein kann. Nur ein kultureller Umsturz habe es möglich gemacht, dass Matera von der nationalen Schande zum Weltkulturerbe wurde, sagt der sizilianische Architekt Fabio Ciaravella, der künstlerischer Leiter des Projekts
«Architecture of Shame» ist. Es fragt danach, an welchen Orten wir heutzutage mit absoluter Normalität leben, die uns eigentlich beschämen müssten. Oder welche Orte, für die wir uns heute schämen, morgen Weltkulturerbe sein könnten. Wie Matera.

Fotocredits: Lena Klimkeit
(dpa)

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